Sonntag, 23. Januar 2011

Under Pressure

Ich steige morgens in den Bus Nr.603, der mich direkt von der Haustür bis zum Arbeitsplatz schaukelt. Der Busfahrer zieht sein „Anyeong Haseyooooo“ in die Länge als ich die Stufen erklimme und meinen Public-Transport-Chip in Form einer Hello-Kitty (sorry, aber wir sind in Asien, da sind dem Kitsch keine Grenzen gesetzt) mit einem Piep-Geräusch am Automaten vorbeiführe. Heute habe ich Glück, ich muss meinen Morgen nicht mit Bus-Surfing starten (die Busfahrer haben allesamt eine unglaublich expressive Fahrweise, weshalb man sich stets breitbeinig in den Boden verankern muss. Wenn man dann noch locker in die Knie geht und sich am besten an zwei von der Decke baumelnden Handgriffe festkrallt, hat man eine reale Chance unbeschadet am Ziel der Busfahrt anzukommen), sondern finde noch einen freien Sitzplatz ganz Hinten im Bus. Mein noch verschlafener Blick schweift durch die Sitzreihen begleitet von der Musik und Werbebeschallung aus den Lautsprechern.

Die ersten Akkorde von „Time of my life“ (die Jukebox des Busfahrers hält jeden Morgen aufs Neue atemberaubende Überraschungen bereit) erklingen gerade, als mein Blick auf einem Mädchen mit akkurat gescheiteltem, glänzendem Haar hängen bleibt. Sie hat ihre Puderdose gezückt und bearbeitet mit der Quaste gewissenhaft und mechanisch jeden Winkel ihres ebenmäßigen Teints. Plötzlich hält sie inne und ihr Blick im winzigen Handspiegel bleibt auf ihren eigenen Gesichtszügen haften, beginnt diese abzutasten als würde sie sich selbst zum ersten Mal sehen. Die Eltern hatten ihr eine Korrektur ihrer Schlupflieder zum bestandenen Abitur geschenkt. Das sollte ihren Blick öffnen. Außerdem war das ja auch ein ganz übliche Aufmerksamkeit. Die meisten ihrer Klassenkameradinnen hatten den ein oder anderen kleinen Schönheitseingriff vornehmen lassen. Denn gutes Aussehen war der Schlüssel zum Erfolg, das hatte man den jungen Mädchen schon früh von allen Seiten eingebläut. Im gnadenlosen Konkurrenzkampf um einen guten Job musste man alles geben. Gute Noten alleine reichten da nicht. Man musste in jeglicher Hinsicht besser sein – am besten makellos. Denn schließlich gilt die gesellschaftliche Position, gilt Aufstieg und ein üppiges Einkommen alles. Außerdem geht ein guter Job für gewöhnlich auch mit einer guten Partie einher. Sie mochte zwar ihren momentanen Freund sehr gerne – er führte sie immer in die teuersten Restaurants aus – aber letztlich ließ sein Ehrgeiz ein wenig zu wünschen übrig. Sie wusste also nicht wie lange das noch so weitergehen konnte. Schließlich war sie an einer der landesweit besten Universitäten angenommen worden und er nur an einer zweitklassigen. Wie auch immer, er hatte ihr große Komplimente gemacht für ihre neuen, größeren Augen. Er beglückwünschte sich, dass seine Freundin nun noch besser aussah. Sie tupfte noch einmal Puder auf ihre Nasenflügel. Vielleicht sollte sie noch für eine zweite kleine Korrektur sparen. Die Nase wirkte doch ein wenig flach. Ein kurzer Zweifel in Form der monsterhaften Fratze von Frau Hang durchzuckte sie, deren Bild kürzlich durch die Medien ging (http://banglaclub.wordpress.com/2008/11/12/inject-cooking-oil-in-my-face/). Aber das Anheben des Nasenbeins war Standard und Routine, jede zweite ließ diesen Eingriff vornehmen – nichts zu befürchten also. Entschlossen klappte das Mädchen ihre Puderdose mit einem lauten Klacken zu und verstaute sie wieder in ihrer Handtasche.

 Sportstadion? Nein, Rathaus!!!


Mein Blick wandert weiter zu einer Frau, die sich eingerollt in ihre pinke Daunenjacke und mit Kopfhörern im Ohr komplett von der Welt abgekapselt hatte, um ihre kurze Nacht noch ein wenig zu verlängern. Wieder einmal Überstunden! Wie sollte sie da jemals an Kinder denken können. Sie war nun schon sieben Jahre lang in ihrem Job. Eine gute Position. Sie kam abends selten vor 11 Uhr nach Hause. Am Wochenende gab es häufig zusätzliche Aufgaben zu lösen. Kurz nachdem sie bei ihrer Firma angefangen hatte, hatte ihr Freund, der ihr von Kollegen vorgestellt worden war, ihr einen Heiratsantrag gemacht. Sie hatte „ja“ gesagt, es wurde sowieso langsam Zeit für sie. Er verdiente reichlich und arbeitete genauso viel. Alles lief gut. Sie sahen sich kaum. Sie hatte sich immer Kinder gewünscht. Zwei Stück. Ein Junge und ein Mädchen. Ein fröhliches Familienleben wie aus der Nudelwerbung. Das Mädchen hätte zwei Zöpfe und würde sobald ihre Fingerchen groß genug waren Klavierunterricht bekommen. Der Junge, ein zwei Jahre älter als sein kleines Schwesterchen, würde Pullunder tragen und Jugendmeister im Go-Spielen werden. Abends säßen die Eltern mit stolz geschwellter Brust bei einem dampfenden Kimchi-Eintopf (Kimchi ist die Essenz Koreas und was hier die Welt im Innersten zusammenhält. Dieses vergorene Gemüse, klassischerweise Chinakohl, wahlweise – und die Auswahl ist hier riesig – aber auch Rettich, Gurken, Lauch etc., wird zu ausnahmslos jedem Essen gereicht und schmeckt ein bisschen wie scharfes Sauerkraut. Praktisch jede Familie hat ihren eigenen separaten Kimchi-Kühlschrank, der nicht selten die Dimensionen einer Kühltruhe annimmt. Der Sinn dieses Möbelmonsters wurde mir bewusst als meine Hausmutter diese Spezialität einmal zubereitete und die ganze Wohnung von einer strengen Milchsäure-Fahne durchweht wurde. Da hat ein einzelner Atemzug die Verdauung schon ordentlich in Schwung gebracht. Diese kleinen Kimchi-Beilagen sind eigentlich sehr lecker, wenn man es nicht übertreibt. Eine kleine Portion zur Nudelsuppe ist bestens, aber Kimchi-Eintopf mit Kimchi gefüllten Teigtaschen und Kimchikimchi ist definitv zu viel des Guten. Ich hab noch nicht geschaut, aber ich bin mir sicher bei McDonalds gibt es auch den Kimchi-Burger) am Esstisch und würden sich von den Kleinen die Abenteuer des Tages berichten lassen. Aber wie sollte sie das nur anstellen? Sie konnte sich kaum eine Babypause erlauben. Und Zeit für das Familienleben, wo sollte sie sich die denn noch herausschneiden? Vielleicht sollte sie sich lieber noch stärker auf ihre Arbeit konzentrieren und versuchen auch eine gute Hausfrau zu sein. Vielleicht sollte ihr das genügen… (Korea ist unter den OECD-Ländern die Nation mit der niedrigsten Geburtenrate) Die Frau rollte sich in ihrem Sitz auf die andere Seite. Eine Haarsträhne fiel schräg über ihre fest verschlossenen Augen und sie versank wieder ein wenig tiefer in ihr unruhiges Nickerchen.

Die Nudelwerbung mit der quäkenden Kinderstimme ist vorbei und das nächste Lied erklingt aus den Lautsprechern. „Dschingis Khan“ – keine Ahnung wie das den Weg nach Korea gefunden hat! Neben dem Sitz der dösenden Frau steht kerzengerade ein Mann im langen Mantel, der in der einen Hand seinen Aktenkoffer trägt und sich mit der anderen an einer Stange festhält. Der Lederhandschuh spannt über den Knöcheln. Er hat seinen Blick starr der Tür zugewandt. Seine Karriere war bisher musterhaft verlaufen. Nach den üblichen zwei Jahren beim Militär und einem erfolgreichen Studium hatte er mit großen Hoffnungen und Erwartungen in einer bekannten Firma angeheuert. Er hatte Spaß an seiner Arbeit und war gut darin. Die zahllosen Überstunden machten ihm nichts aus. (Die Koreaner verbringen im OECD-Vergleich die meisten Stunden in der Arbeit) Auch wenn er spät abends nach Hause kam, wartete seine Verlobte mit ein paar selbstgemachten Mandu (die koreanische Ravioli Variante) auf ihn. Nur wenn er mit seinem Chef und den Kollegen nach der Arbeit noch etwas trinken ging, schlief sie für Gewöhnlich schon, wenn er tief in der Nacht den Code in das Sicherheitsschloss an der Wohnungstür eintippte. Er war dann auch immer völlig ausgelaugt, denn sie tranken in Massen. Keiner durfte aufhören, bevor er nicht mindestens einmal das Weite suchen musste. Der Kater am nächsten Morgen war schrecklich. Natürlich musste man trotzdem pünktlich in im Büro erscheinen. Aber das gehörte nun mal zum Arbeitsalltag dazu, man gewöhnte sich daran. Leid tat es ihm nur um einen Kollege, mit dem er sehr gut auskam. Er hatte sich mit der Ausrede an einer Allergie gegen Alkohol zu leiden den gemeinsamen Gelagen zu entziehen versucht. Das wurde ihm als Schwäche ausgelegt und so wurde er von seinem Chef und den Kollegen eiskalt aus der Firma gemobbt. Er konnte den Anblick nicht vergessen als sein Kollege am letzten Arbeitstag die Sachen auf seinem Schreibtisch mit gesenktem Blick in einen Karton packte. Danach hatte zwar niemand mehr den Namen des Kollegen erwähnt, aber es wurde über einen schrecklichen Unfall gemunkelt. (Korea hat die höchste Selbstmordrate im OECD-Vergleich) Die Gelage gingen jedoch weiter und, als müsse er beweisen, dass alles in bester Ordnung sei, begann der Chef diese nun in diversen Etablissements ausklingen zu lassen. Er hasste diese Abende. Die Frauen waren überschminkt und versuchten ihre Müdigkeit hinter übertriebenen Gesten und ständigem Gekicher zu verbergen. Doch der Chef bestand darauf, dass sich jeder eine aussuchte und befragte die Damen danach immer nach einem erfolgreichen Resultat des Beisammenseins. Wie ihn das alles ekelte. Aber was sollte er machen. Er brauchte den Job. Er wollte erfolgreich sein. Der Mann strafft seine Haltung und verschwindet in die Kälte, als sich die Türen an der nächsten Haltestelle auffalten.

Das Radio verstummt. Ich öffne eines der beschlagenen Fenster und sauge die eiskalte Luft in meine Lungen. Der Bus hält an einer Ampel und ich betrachte die Ladenreihe an der Straße. Im zweiten Stockwerk befindet sich ein Spielzeuggeschäft. Die Fensterfront ist über und über mit knallbunten Kuscheltieren ausgehängt, die alle mit ihrem festgenähten Grinsen in die Stadt hinaus starrten. Ein Ladenfenster ist sperrangelweit geöffnet. Daneben steht ein Mann, draußen an der Fassade, nur auf einem knappen Mauervorsprung. Er steht mit dem Rücken nah an die Scheibe gepresst. Im Laden hatte er die Musik auf volle Lautstärke aufgedreht und wippt mit seinen Knien im Takt. Unter ihm eilen die Menschen vorbei in ihre Arbeit im dichten Verkehr. Über ihnen steht er und saugt an seiner Zigarette. Ich meine zu erkennen wie sich seine Lippen zum Song bewegen. Sie formen „I want to break free“, als würde sie das alles gar nichts angehen…

Meine Nachbarschaft und mein Lieblingsnachbar ganz rechts

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